OFFENER BRIEF AN AJATOLLAH CHAMENEI

An Seine Exzellenz, Ajatollah Said Ali Chamenei,

Im Jahr vor der iranischen Revolution wurde einem Mitglied meiner Familie die große Ehre zuteil, neben Ihnen beten zu dürfen – was unsere Familie auch später noch, während der Revolution, mit großem Stolz erfüllt hat. Mein Verwandter war mit Ihnen im Gebet vereint – und dennoch kurz nach der Revolution gezwungen, so wie auch ich, aus diesem Land zu fliehen.

Wir haben, Exzellenz, kein Verbrechen begangen. Wir haben lediglich die repressiven Maßnahmen kritisiert, die von Imam Chomeini eingeführt wurden – und das war nun ein strafbares Vergehen.

Ich war noch nicht einmal 18 Jahre alt, als ich mich gezwungen sah, meine Heimat zu verlassen. Anders als wir, die an der islamischen Revolution beteiligt waren, uns das je haben vorstellen können, wurde mit dieser Revolution eine Gewaltherrschaft verankert. Die Veränderungen haben einen Exodus ausgelöst, wie ihn das Land noch nicht gesehen hat, sie haben zur Ermordung von Tausenden Iranern geführt – ausgerechnet unter einer Regierung, die dem Land die Befreiung von der Tyrannei versprochen hatte.

In den achtziger Jahren wurden Tausende Iraner exekutiert, die mit Ihnen gegen den Schah gekämpft hatten. Sie wurden von einem Revolutionstribunal abgeurteilt, ohne dass es je eine offizielle Anklage gegeben hätte, ohne dass sie einen Verteidiger berufen durften. Unter denen, die damals getötet wurden, waren auch zwei Mitglieder meiner eigenen Familie; ein Verwandter wurde in einem Massengrab verscharrt. Allein 1988, und zwar binnen weniger Wochen, wurden Tausende politische Gefangene in einem Massenverfahren verurteilt, hingerichtet und in anonymen Gräbern beigesetzt – und dies geschah im Auftrag des Imam Chomeini.

Den Gefangenen wurden genau drei Fragen gestellt:

Bist du Muslim?

Hast du heute gebetet?

Und hast du uns alles über deine Freunde gesagt, auf dass wir nun davon ausgehen können, dass du künftig die Gesetze der Scharia befolgst?

Tausende haben offenbar die falschen Antworten auf diese Fragen gegeben, denn sie liegen nun zusammen in einem Massengrab bei Khavaran in der Wüste vor den Toren Teherans.

Vor kurzem hat Ihr Präsident den Befehl gegeben, dieses Massengrab zu zerstören. Warum hat er das getan? Ich denke aus Furcht. Weil jeden Tag weinende Mütter frische Blumen auf diesen unrühmlichen Haufen Erde legen. Imam Chomeini hat dem Volk Irans Gerechtigkeit versprochen – und dieses Grab ist der Beweis, was er damit gemeint hat. Es ist ein Symbol für das theokratische Regime, das Sie, Exzellenz, in den vergangenen zwanzig Jahren geführt haben.

Vor 30 Jahren sind Millionen Iraner, vor allem junge Menschen, auf die Straße gegangen, um für drei Dinge zu demonstrieren:

die drei Grundrechte, die wir Azadi-e Baian, Azadi-e Qalam und Azadi-e Andish-e nennen:

– die Freiheit des Gedankens sowie des gesprochenen und geschriebenen Wortes.

– die persönliche Freiheit des Individuums

– eine Islamische Republik.

Doch unsere Hoffnungen wurden enttäuscht; wir halfen dabei, eine Verfassung zu etablieren, die man nur verbrecherisch nennen kann.

Imam Chomeini setzte seine Vorstellung einer vilayat-i faqih durch – die Diktatur eines alleinherrschenden Ajatollahs.
Er hat damit eine Krise für den Iran und den Islam selbst heraufbeschworen, wie sie die Welt noch nicht gesehen hat.

Exzellenz, Sie haben noch jeden Versuch eines gewaltfreien Protests mit Gewalt und Unterdrückung erstickt.

Die Ernennung eines obersten geistlichen Führers nach den Prinzipien der vilayat-i faqih hat zu unlösbaren Konflikten geführt.

Die turnusgemäße Wahl eines Präsidenten hat weder für das Justizsystem eine Bedeutung, noch für die Außen- oder Sicherheitspolitik unseres Landes. Damit bleibt der Regierung jede Glaubwürdigkeit und Legitimation versagt. Präsident Chatami sah sich schließlich gezwungen, öffentlich zu bekennen, dass er die großen Hoffnungen seiner Anhänger enttäuschen musste – und keine der angekündigten Reformen durchsetzen konnte.

Sie, der Führer Irans, haben noch jede Maßnahme eines Präsidenten blockiert, die Sie nicht für richtig hielten. In der Konsequenz haben sich Millionen Iraner desillusioniert von Präsident Chatami abgewendet – obgleich Sie dafür verantwortlich waren, dass er scheiterte.

Die Revolution, die einmal in Freiheit begann, führte zur Herrschaft von Präsident Ahmadinedschad – und zu Antisemitismus sowie einer Verleugnung des Holocaust. Präsident Ahmadinedschad brüstet sich damit, er würde Israel, ein Mitglied der Vereinten Nationen, von den Landkarten tilgen.

Viele Iraner schämen sich wie ich für diesen unzivilisierten Antisemitismus, der nicht typisch für uns Perser ist.

Irans halboffizieller Antisemitismus und die tyrannische Herrschaft über das eigene Volk sind ein Ausdruck für das moralische Scheitern Ihres Regimes.

Millionen Menschen in Teheran und in anderen Großstädten Irans haben Ihren moralischen Bankrott verdammt – und bei der Wahl in der vergangenen Woche für Hossein Mussawi gestimmt.

Ihre Herrschaft ist vorbei, und ich hoffe doch, Exzellenz, dass Sie das auch erkannt haben.

Und selbst wenn Sie es noch nicht wahrhaben wollen, so haben Sie doch bestimmt gehört, wie es Hunderttausende in Teheran gerufen haben:

Allahu Akabar – Nieder mit der Diktatur!

Exzellenz, die aktuellen Demonstrationen sind ein Signal des iranischen Volks, der Kinder der Revolution, dass man Ihre Herrschaft nicht länger ertragen will.

Ihr Regime wird nicht mehr dazu in der Lage sein, Entscheidungen durchzusetzen, wenn es nicht Gewalt anwenden will.

Ich beschwöre Sie: Sehen Sie ein, dass Iran an einen Wendepunkt gelangt ist. Entweder akzeptieren Sie den Willen der Menschen und machen einen friedlichen demokratischen Wandel möglich – oder Sie bekämpfen den Protest der Menschen und richten ein Blutbad an, das Iran ins Chaos stürzen wird.

Fragen Sie sich bitte selbst: Kann ein Regime, das von der Mehrheit der Bevölkerung gehasst und abgelehnt wird, den Übergang zu einer demokratischen Gesellschaftsform schaffen, in der Recht und Gesetz gelten? Hat es einen solchen Wandel in der Geschichte jemals gegeben, ohne dass dabei Blut vergossen worden ist?

Die überraschende Antwort ist ja, es kann gelingen.

Das Apartheid-Regime in Südafrika wurde ebenfalls von der Mehrheit der Menschen gehasst, und es war ein extrem gewalttätiges System. Trotzdem gelang es Südafrika unter der genialen Führung Nelson Mandelas, den Weg eines friedlichen Wandels einzuschlagen. Dort hat man der regierenden Minderheit Garantien eingeräumt (was ihr Eigentum und ihre Sicherheit betrifft). Gleichzeitig hat man über eine provisorische Verfassung verhandelt. Dieses Modell einer verhandelten Gerechtigkeit entspricht den Menschenrechten und den demokratischen Prinzipien.

Was in Südafrika gelang, in einem Land, das von Hass und Gewalt gespalten war, kann auch in Iran Wirklichkeit werden.

Exzellenz, es hängt jetzt von Ihrem Willen, Ihrer Entscheidung ab. Sie können sich dafür entscheiden, wie es der damalige Präsident Südafrikas, De Klerk, getan hat, den Weg für den Wandel freizumachen – oder den Willen des Volks mit Gewalt unterdrücken, wie Sie es in der Vergangenheit praktiziert haben.

Aber ich beschwöre Sie: Nehmen Sie zur Kenntnis, dass Millionen von Iranern Mussawi vertrauen. Er war es, der die jüngsten Wahlen gewonnen hat, nicht Ahmadinedschad. Er könnte die Rolle einnehmen, die Mandela bei der friedlichen Machtübergabe in Südafrika gespielt hat. Sofern Sie ihm die Chance dazu geben.

Natürlich werden die Menschen fragen, was mit den Leuten geschehen soll, die Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen haben – wie die Massenexekutionen, die im Namen des Islamischen Staates angeordnet wurden. Aber auch hier könnte Südafrika mit seinen Wahrheitskommissionen das Vorbild liefern. Der Wille der Bevölkerung muss nicht dazu führen, dass Blut vergossen wird. Auch könnten die Vereinten Nation eine wichtige Rolle spielen. Die Organisation hat große Erfahrung mit solchen Gesellschaften im Übergang. Uno-Generalsekretär Ban Ki Moon sollte mit dem Sicherheitsrat darüber sprechen. Handelt es sich dabei um eine Verletzung iranischer Souveränität? Ich denke nein.

Exzellenz, Sie haben offensichtlich Zweifel am Ergebnis der jüngsten Präsidentschaftswahlen, sonst hätten Sie nicht eine Überprüfung der Auszählung angeordnet.

Die Massendemonstrationen in den iranischen Städten zeigen sehr deutlich, dass sich das Volk den politischen Wandel wünscht. Warum sich nun der Uno-Sicherheitsrat mit der Situation in Iran befassen sollte? Weil ein Iran, das von interner politischer Gewalt gezeichnet ist, eine Gefahr für die gesamte Region wäre – wie natürlich auch für das iranische Volk selbst.

Außerdem stellen die modernen Waffensysteme und das angereicherte Uranmaterial im Besitz Irans eine Gefahr für den Weltfrieden und die internationale Sicherheit dar, solange dieser Konflikt nicht gelöst ist. Es ist Aufgabe der Vereinten Nationen, Sie davon zu überzeugen, dass ein friedlicher Übergang möglich ist, sofern Sie dies nicht selbst erkennen. Letzten Endes ist es aber an den Iranern selbst, einschließlich derer im Exil, diesen Wandel voranzutreiben.

Exzellenz Chamenei – Sie wissen wie ich, dass es noch keiner Tyrannei gelungen ist, ein politisches System zu schaffen, dass von Dauer ist. Ihre Berater haben Sie in den vergangenen Jahren nicht richtig informiert; Sie sind blind gewesen und konnten nicht erkennen, was wirklich vorgeht in diesem Land. Die Wahrheit ist doch, dass die herrschende Klasse von den Menschen verachtet wird. Ihre Puppe, Ahmadinedschad, versucht, seine einfachen Botschaften unter das iranische Volk zu bringen; auch er wird verachtet. Wenn Sie auch weiterhin mit Gewalt gegen Ihr eigenes Volk regieren, dann haben Sie ganz offensichtlich nichts aus dem tragischen Ende des letzten Schahs von Persien gelernt.

Die Mütter meiner Verwandten, die Sie haben hinrichten lassen, werden Ihnen nie vergeben. Aber sie werden es Ihnen erlauben, sich friedlich zurückzuziehen – der Freiheit und dem Frieden ihrer Enkelkinder zuliebe.

Die Zeit drängt jetzt für die Menschen im Iran – und auch für die internationale Gemeinschaft.

Ich wünsche Ihnen Weisheit und Frieden,

Gezeichnet

Afshin Ellian

PRESSEMITTEILUNG-DETAILS:
Afshin Ellian ist einer der 30 am meisten gefährdeten Männer der Niederlande. Sogar innerhalb der Universität wird Ellian stets von zwei Leibwächtern begleitet. Der gebürtige Perser ist Professor für Staatsrecht und Philosophie – und einer der prominentesten und provokantesten Islamkritiker. Er kennt beide Kulturen, kann sei miteinander vergleichen. Er fordert einen toleranten, einen aufgeklärten Islam.
Wir veröffentlichen diese Pressemeldung in seinem Namen.
Team PRESSESCHLEUDER.COM